Frühjahrsputz
„Zeit mal wieder auszumisten!“ Jule steht vor Metern von Buchrücken im Wohnzimmer und greift wahllos zu. Entschlossen wischt sie über den oberen Rand des Buches. Eine feine Staubschicht löst sich in ihre Bestandteile auf. Sie muss niesen.
Die Titelseite zeigt den Autor an der Schreibmaschine. Chlodwig Poth. Kinnlanges Haar, Vollbart, azurblauer Strickpullover. Erste Erinnerungsfetzen schreiben ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie schlägt den Buchdeckel um und sucht nach dem Kaufdatum. August 1985.
Ein letzter Sommer mit Carl auf der kratzigen Decke am See. Er las in kühler Abendluft aus dem Liebesroman. Von der mühevollen Suche des Helden und seiner Liebsten, den Gipfel ihres Liebesaktes gemeinsam exakt in dem Augenblick zu erleben, wenn auch Tristan und Isolde ihn musikalisch vollziehen. Welch grandiose Mischung noch heute: Richard Wagner unter Marihuana. Für eine Reise nach Italien fehlten ihnen damals Zeit und Geld. Aber so bald wie möglich wollten sie den Spuren der beiden durch Italien folgen, das schworen sie sich jede Nacht aufs Neue, wenn sie ihre Decke zusammenrollten und die Räder zurück in ihre Studentenbude schoben.
Ihre Liebe reichte nicht bis Italien. Heute leben beide in derselben Stadt, haben sich eingerichtet und treffen dann und wann zusammen, bei Freunden, zu Vorträgen, im Theater. Der Schmerz der Trennung steht längst nicht mehr zwischen ihnen.
Das Lächeln auf Jules Lippen weitet sich aus und wird zum Plan. Bei nächster Gelegenheit wird sie ihm das Buch zeigen. Sie freut sich schon jetzt auf sein Echo.
„Den Schinken gibt es noch?“ Jule muss ihm das Buch förmlich aufzwingen. Er dreht es von rechts nach links, setzt das Daumenkino an. Und da, zwischen zwei Seiten, tief im Buch versteckt, lacht sie ein Geldschein an. 50 DM. „Die erste Rate für unseren Italientrip.“ Sie glauben es beide nicht. „Die hast du nicht längst ausgegeben?“ Carl reicht ihr das Geld und behält das Buch. „Finderlohn!“
Ute Maibaum